Ein wildromantisches Alpenerlebnis
Alpinwanderung Sentiero Alpino Calanca
Von Nadja Maurer, Fotos von Roman Huber, Fabian Künzel und Thomas Vielgut.
Einst war der Sentiero Alpino Calanca lediglich eine Vision. Ein Höhenweg entlang der Bergkette zwischen dem Calancatal und dem Misox? Kaum realisierbar, dachten viele. Doch der Basler Wilfried Graf, seinerseits Ferienhausbesitzer im Calancatal, liess sich davon nicht beirren. 1977 begann er mithilfe von Jugendlichen aus halb Europa den Weg begehbar zu machen. Seit 1983 ist der 50 Kilometer lange, hoch alpine Höhenweg durchgehend erschlossen und erfreute bislang über 10'000 Berggängerinnen und Berggänger.
Eine Demonstration, warum der Sentiero Alpino Calanca ein unmögliches Projekt schien. Einige Passagen schienen auf den ersten Blick nur für Gämsen und Steinböcke machbar zu sein.
Etappe 1: Lang, aber reizvoll
Ausgangsort des Sentiero Alpino Calanca ist das malerische Dorf San Bernardino. Nach einer Übernachtung im Hotel Bellevue machen sich die drei Fotografen Fabian, Roman und Thomas aus Österreich frühmorgens auf Richtung San Bernardino Pass. Ein wunderschöner Sonnenaufgang erwartet das Dreiergespann zum Start der viertägigen Alpinwanderung. Die erste Etappe hat es in sich: Mit knapp 14 Kilometern liegt der längste Streckenabschnitt der Route vor ihnen – dafür der landschaftlich reizvollste. «Der Einfluss der Südalpen und des mediterranen Flairs auf die Landschaft ist einfach grandios», schwärmt Fabian schon auf den ersten Metern. Der Weg bahnt sich durch saftgrüne Wiesen und felsige Landschaften. Entlang dem Laghetto Moesola geht es durch den Kessel der Alp Mucia zu den Seen am Pass di Passit. Von dort aus weiter über den Pass de la Cruseta – mit 2455 der höchste Punkt der ersten Etappe – und die Bocca de Rogna und schliesslich zur ersten Unterkunft, der Rifugio Pian Grand .
Das spektakuläre Panorama der Rifugio Pian Grand am frühen Morgen.
Mit 14 Kilometern in den Beinen erreicht die Gruppe rund sechs Stunden später die Selbstversorgerhütte. Zuerst mal Schuhe ausziehen, den inzwischen schwer gewordenen Rucksack ablegen, die müden Beine hochlegen. «Der erste Tag war anstrengend, mit vielen Höhenmeter. Aber es hat sich gelohnt», sagt Fabian. Die wunderschöne Aussicht auf die umliegende Bergwelt auf dem Rifugio auf 2398 m ü. M. ist Lohn genug für die erste Etappe. An der Biwak-Hütte finden die drei sofort Gefallen. «Mega cool und gut eingerichtet. Es ist alles da zum Kochen.» Ein weiteres Highlight: Das Toilettenhäuschen mit Aussicht – und ohne Türe. «Diese Toilette ist es definitiv wert, besucht zu werden», meint Fabian schmunzelnd. Abends geniessen die Österreicher bei Kerzenlicht selbstgekochten Curryreis und lassen die erste Etappe gemütlich ausklingen.
Einer der drei jungen Österreicher genießt von der Tür des Biwaks aus den herrlichen Blick auf das Tal.
Etappe 2: Ein Steilhang zum Frühstück
Am nächsten Morgen liegt das nächtliche Gewitter noch in der Luft, doch die Sonne schafft sich zwischen den Wolken ihren Platz. Ein kleines Frühstück mit Müsliriegel und Apfel – dann geht es zügig weiter mit der zweiten Etappe. Zum Warm werden bleibt nicht viel Zeit: Gleich schon geht es steil hoch auf Fil de Bedoletta (2514 m ü. M.). Dafür ist der höchste Punkt der anstehenden 8,5-Kilometer-Etappe bereits in einer halben Stunde erreicht. Oben angelangt: Ein wunderschöner Ausblick zum Lagh de Trescolmen. Zu diesem gelangen Fabian, Roman und Thomas nach weiteren 40 Minuten. Der kleine See mit Wasserfall lädt zu einer Pause ein – und wäre eigentlich perfekt für eine Abkühlung. Doch ins Wasser traut sich niemand. «Wenn es ein bisschen wärmer gewesen wäre…», meint Fabian schmunzelnd. Mit den ersten Regentropfen erreicht die Gruppe das Rifugio Ganan auf 2375 m ü. M. Über eine Tür in der Dachschräge gelangen die Freunde in die urige Hütte. Wiederum stehen Matratzen zur Verfügung, und auch zum Kochen ist alles vorhanden.
Der kleine Bergsee von Trescolmen, gesehen von den 2500 Metern des Passo dell'Alta Burasca.
Etappe 3: «Herzlich» in vielerlei Hinsicht
Die Nacht wird kalt: Am Morgen zeigt das Thermometer im Rifugio Ganan gerade mal 5 Grad an. Draussen sind es 2 Grad. 200 Meter oberhalb der Hütte liegt Schnee. Winterlich. Trotz der Kälte ist es in der Hütte behaglich – genügend Decken sei Dank. Ein warmes Porridge zum Frühstück wärmt die ausgeruhten Glieder der Abenteurer auf. Die dritte Etappe steht an. Ein erster Halt legen Fabian, Roman und Thomas nach 1,5 Stunden Marschzeit am Lagh de Calvaresc mit seiner bekannten Herzform ein. Von Weitem ist dessen Form am besten zu erkennen. In einer windgeschützten Ecke legt sich die Gruppe ins Gras und geniesst die Aussicht auf den «Herzlisee». Kurz durchschnaufen, während ihnen von Weitem die Murmeltiere zupfeifen. Weitere 1,5 Stunden dauert es anschliessend bis zur Buffalora-Hütte – mit Aussicht auf einen warmen Kaffee.
Der kleine aber berühmte Lagh de Calvaresc mit seiner besonderen Herzform.
Die Buffalora-Hütte ist Hauptstützpunkt und Etappenort des Sentiero Alpino und die einzige bewartete Hütte im Val Calanca. Dort angekommen gibt es Kaffee und Kuchen zur Stärkung, später eine währschafte Portion Rösti. In der Hängematte geniessen Fabian, Roman und Thomas die letzten Sonnenstrahlen, bevor sie sich in der Buffalora-Hütte aufs Ohren legen.
Der klassische Wegweiser, das den richtigen Weg zu Capanna Buffalora zeigt.
Die Hütte in ihrer privilegierten Lage, auch abends sonnig.
Etappe 4: Durch kleine Oasen zurück in die Zivilisation
Der nächste Tag verspricht warmes und sonniges Wetter. Mit dem Abstieg Richtung Braggio, ein winziges Bergdorf auf der linken Seite der Calancasca, verändert sich die Landschaft. Waren die Dreiergruppe zuvor mehrheitlich oberhalb der Baumgrenze in kargem Gebiet zwischen 2000 und 2400 Höhenmetern unterwegs, nähern sie sich nun der Waldgrenze. Der Weg führt durch viele lichte Lärchenwälder, die dankbaren Schutz vor der Sonne bieten.
«So ein schönes Bergdorf habe ich selten gesehen», schwärmt Fabian bei der Ankunft in Braggio. Im 50-Seelen-Dorf findet man Ruhe vor der Hektik in der grossen Welt. Hier prallen Zeiten aufeinander: Die Heuschober als Relikte der Vergangenheit einerseits, die Seilbahn als Lebensader andererseits. Lebensader deshalb, weil die Bahn, neben dem nur zu Fuss begehbaren Saumweg, der einzige Zubringer ist ins autofreie Bergbauerndorf.
Nach einem hausgemachten Rhabarber-Eis in der Gelateria Val Meira fahren Fabian, Roman und Thomas mit der Seilbahn runter nach Arvigo. Im Bed and Breakfast Ai Cav kommen sie für eine Nacht unter. «Ein wunderschönes Haus, toll eingerichtet und von zwei Italienern liebevoll bewirtschaftet», sagt Fabian. Auch kulinarisch kommen die Gäste aus Österreich auf ihre Kosten: Ein Fleischplättli mit Salat, Pizzoccheri und hausgemachtes Tiramisù.
Ganz entspannt machen sich Fabian, Roman und Thomas nach einer erholsamen Nacht im Ai Cav auf die Rückreise. Beim Castello di Mesocco noch ein kurzer Fotostopp, dann geht es zurück nach Österreich mit vielen tollen Eindrücken – und einer besonderen Feststellung: Gut, dass der Höhenweg Sentiero Alpino Calanca keine Vision blieb.
Panorama vom Pass de la Cruseta, links sehen Sie den Pass di Passit, in der Mitte den Piz d'Arbeola